Und dann


Im fröhlichen Dilettantismus des unerschöpflichen Notizheftes seiner Oma Laura findet Bora Ćosić das Material für seine Bücher. Ohne dieses Heft, behauptet Ćosić, "hätte es auch den Roman 'Bel tempo' nicht gegeben, in dem meine Oma, endlich zum Leben erweckt, so spricht, wie sie sprechen würde, wenn sie leben würde und sich entschlossen hätte, eine Geschichte zu schreiben.” Da sitzt sie nun auf fast vierhundert Seiten vor dem Fernseher und redet. Sie kommentiert, erzählt und erfindet neu, was sie (vielleicht) gesehen hat: die Wirklichkeit eines Jahrhunderts.

Sie hat alles aufgeschrieben und ihr Schriftsteller-Enkel muß sich in diesem unerschöpflichen Reservoir bedienen. Wer souffliert hier wem? Schließlich bekennt sich Laura zu den Segnungen einer solchen Autorschaft, wenn sie die Ordnung der Schulhefte lobt, in denen die Hausaufgaben der Kinder, der eigenen Kindheit nachzulesen sind. Kein Schriftsteller käme darauf, was in so einem Heft alles stehen kann von kindlicher Aufrichtigkeit. Alles kann auch mit allem verglichen werden und dann diese Themenvielfalt: "Wie benimmt man sich im abstürzenden Flugzeug? Wie ich einen Kurzschluß reparierte. Wir und die Ameisen. Meine Gedanken am Donnerstag Nachmittag. Was tun die zwei Flittchen in einem Bett?” Das Leben plappert. Heute, klagt Laura, lesen die Kinder ihre Hefte im Fernsehen vor.

"All diese Kontraste.” Details der Familienverhältnisse von Generationen, Echos unwahrscheinlicher Lektüren, die krause Folge der Fernsehbilder, der Geschichten von Geschichten, die sie auslösen, über die Seiten gestreut, doch weit entfernt von Beliebigkeit.

Wie man einen Schuh richtig anzieht, Draisine fährt, eine Hochzeitsschleife bindet, alles kann das Fernsehen als Lebenshilfe lehren. Was die Opernsänger im Tirilieren wirklich denken, die Ehrlichkeit der Diebe, der Mindestlohn oder die Partei der Vereinten Kellner Südbayerns: alles wird in der perfekten Unordnung von Oma Lauras vielstimmigem Monolog atemlos integriert.

Was sie sieht, hört und liest, wird in formvollendetem Manierismus durchgespielt, mit hinterhältig einfachen Sätzen, Schulaufsatzprosa als entlarvende Maskerade und radikales Medium: Chamberlain, Pétain und Genosse Tito werden von Laura, dem ewigen, großmütterlich weisen Kind, ebenso mit Kommentaren, Rezepten und Hoffnungen versorgt wie bornierte Bürokraten, Verwandte, "Menschen, die einmal Menschen waren.” Lachen und Entsetzen sind in der erbarmungslosen Hast von Lauras Rede vereint. Gerechtigkeit und Ehrlichkeit mahnt sie ebenso an, wie sie Unzulänglichkeiten mit einem Achselzucken quittiert, Maßstäbe verwirren sich und ordnen sich neu im Echo von Oma Lauras Suada. Stalins Kopf kommt als Sahnetorte auf den Familientisch, einer bekommt die Ohren, ein anderer den Schnurrbart. Daß ihr nichts angeboten wurde, kichert sie, hat sie nicht so sehr interessiert.

Was sich vordergründig als Schicksalsergebenheit darstellt, wird von Oma Laura mit bedingungsloser Zuversicht unterlaufen. Jede ihrer Geschichten wendet sie so, wie es sein soll, nie wie es ist. Oma Laura stellt sich vor, was geschehen wäre, wenn Hitler sich auch mal in Charlie Chaplin verwandelt hätte, wenn Zarah Leander Goebbels rangelassen hätte. Immer tun ihr alle leid und das ist nur auf sehr listige Weise naiv.

"Bel tempo" übt, so Ćosić, "lustige, aber ‘systematische’ Optimismuskritik.” Es sind so viele schöne leere Sätze, mit denen Oma Laura das richtige Leben erzählt. Außerhalb dieses verrückten, sich ständig verrückenden Satzbaukastens läßt Cosic kein Leben, keine Wirklichkeit oder Wahrheit zu. Oma Laura, als die einzige Stimmenmarionette in diesem akustischen Spiel, kann jede Geschichte erzählen. Alles verwandelt sie sich an. Kulisse von Lauras Geplapper ist ihre nervenkranke Tochter Danica. Kein Echo von ihr, sie könnte auch nur Lauras imaginäre Zuhörerin sein. Vielleicht ist sie eine Gestalt aus dem Fernsehen. Sie will, wirft Laura ihr vor, "einen Platz, der ihr nicht zusteht”, nämlich mitten unter den Bildschirmfiguren.

Dagegen erklärt Laura das Prinzip ihrer Weltrede: "Siehst du denn nicht, alles sind die gleichen Personen, dieselben Figuren ein und derselben Komödie, aber die Hauptsache ist” – das ist wirklich die Hauptsache, denn hier läßt Cosic die große Einsicht kippen in böse Einfalt – die Hauptsache ist also, "alle sind am Ende gesund und fröhlich, obwohl die ganze Zeit Streit war.” Die Welt schrumpft zu einer Endlos-Seifenoper, die kein Ziel verfolgt, es sei denn, ihre eigene Fortsetzung. Vollkommen gleichgültig, in welcher Folge wir uns gerade befinden: der illusionslose Blick, in dem die Erzählungen, Epochen und Gestalten zusammenschnurren, scheint doch – und das ist das Wunder dieses wahrhaftigen "Jahrhundertromans” – nie müde.

"Bel tempo" ist nicht nur das ‘schöne Wetter’ der Optimistin Laura, es ist auch ihre Jugendzeit, in die sie zurückkehrt, wenn sie das Fernsehleben nacherzählt, eigentlich erst erfindet. Die unzähligen Geschichten muß Laura als Bilder eigentlich nicht mehr sehen. Längst haben sie sich verselbständigt, fließen ineinander. Lauras "und-dann”-Erzählweise ordnet eine Humormechanik, deren Fallen wir erst nach dem Zuschnappen bemerken. "Mir geht es gut. So gut, daß es mir manchmal schlecht geht.” Ćosić gibt seinen Sätzen kaum merkliche Unwuchten, er nutzt die Vieldeutigkeit lautlicher Assoziationen, elegant und hinterlistig verschieben sich die Bedeutungen.

Alles, was zwischen "löten” und "töten” vorstellbar ist, macht Ćosić als die unbewußte Logik des Versprechens und Verschreibens zum Prinzip seines Erzählens. Daß man sich in der schönen Unordnung orientieren können muß, entlarvt "Bel Tempo" als Märchen.

"Wie soll man sich da zurechtfinden, wer wer ist, damit es nicht zu unverzeihlichen Irrgetümern kommt?” Vor diesen Untieren hat Oma Laura am allerwenigsten Angst. Was auch immer daraus resultiert, muß man ihre Fröhlichkeit nicht als Fatalismus mißverstehen. Die Vieldeutigkeit der Verschreibung von Irrtümern und Ungetümen buchstabiert dieses Jahrhundert der Schrecken auch als Jahrhundert des Aberwitzes. Füllen kann diese Spanne nur ein Roman, ein Jahrhundertroman.