Das Selbst der Sprache


Der unendliche Spaß kann tödlich verlaufen. Für die meisten Menschen jedenfalls, die sich ihm aussetzen. Einziger Schutz: sich schon vorher um den Verstand gesoffen zu haben. Denn Verstand, das lernen wir aus dem Roman Unendlicher Spass von David Foster Wallace, ist das Gegenteil von Unterhaltung.

Er wollte, sagte Wallace einmal, mit diesem Buch etwas wirklich Trauriges schreiben. Joelle van Dyne, eine seiner vielen Figuren, eine junge Frau, die sich von ihrer Schönheit entstellt findet und nebenher als Madame Psychosis mit fremdwortgesättigten Monologen in nächtlichen Radiostunden auftritt, findet die Familie Incandenza, von der "Unendlicher Spaß" in großen Teilen handelt, die zweittraurigste, die sie je gesehen hat. Welches die Steigerungsform ist, bleibt nur Madame bekannt, aber was die Incandenzas angeht, hat sie leider allzu recht.

Man kann diesen Roman, der im Original unter dem Titel Infinite Jest 1996 zuerst erschienen ist, für eine große Satire halten, für einen gnadenlosen Abgesang auf eine von der Unterhaltungsindustrie vereinnahmte Gesellschaft. Heute, dreizehn Jahre später und ein Jahr nach Wallaces Freitod und dem Öffentlichwerden seiner langjährigen Depression, ist es unumgänglich, Unendlicher Spaß nicht auch als Familienroman zu lesen.

Alles andere folgt daraus. Kulturelle Hirnerweichung, sozioökonomische Erosion eines ganzen Staatsgebildes bis in seine letzten Ganglien, der Hass, den diese gefräßige Nullität von denen auf sich zieht, die an der Peripherie darunter zu leiden haben: All das hat seine Ursache, erzählt uns dieses durchaus hochmoralische Überkunstwerk, in der Familie, in ihrer Zerstörung.

Unterhaltung spielt eine große Rolle in Unendlicher Spaß. Eigentlich steht der Begriff synonym für Depression. Doch Wallace gibt nicht dem Fernsehen die Schuld oder Hollywood oder dem Internet. Es ist unsere Schuld. Wir haben es uns ausgesucht, so zu leben. Ähnlich argumentierte Wallace auch später einmal in einem kurzen Text, den er anlässlich der Anschläge vom 11. September 2001 geschrieben hat. Den Hass, den wir im "Westen" auf uns gezogen haben, hätten wir uns selbst zuzuschreiben.

Und in einer sehr amerikanischen Wendung sucht Wallace die Ruinen dieses Selbst in der Familie. Was dann in Unendlicher Spass wie in einem Laborversuch erscheint, ist ein Amalgam aus allen möglichen Genres und Jargons aus Sport, Wissenschaft, Nerd-Technik und medialen Seichtgebieten, hoch getaktet bis zur Groteske. Zur Kenntlichkeit entstellt erscheint - so viel wissen wir auch aus verschiedenen biographischen Recherchen, die nach Wallaces Tod veröffentlicht wurden -, was er in seiner eigenen Familie erfahren hat.

Die Familie Incandenza besteht aus der Mutter Avril Incandenza, einer hochgewachsenen, offenbar überaus attraktiven Mittfünzigerin, aus James Incandenza, Forscher, Experimentalfilmer und Gründer der Enfield Tennis Academy, aus dem ältesten Sohn Orin, einem inzwischen in Arizona lebenden Footballspieler, der mit seiner Mutter nicht mehr redet, dem mittleren Sohn Mario, einem verzwergten Krüppel, der aber mit allerlei Hilfsmitteln als Filmemacher in die Fußstapfen seines Vaters getreten ist, schon bevor sich dieser auf ziemlich komplizierte und rätselhafte Weise mit dem Kopf in einer Mikrowelle umgebracht hat, und schließlich Harold James Incandenza, genannt Hal, dem jüngsten Sohn, der die ungekürzte Version des Oxford English Dictionary auswendig kann, umfangreiche Abhandlungen zu entlegenen geisteswissenschaftlichen und mathematischen Themen verfasst sowie nach Mitschüler John Wayne (sic!) zweitbester Spieler der Tennisakademie ist.

Natürlich ist diese Familie mehr als die Summe ihrer Teile. Doch nichts wird hier beschworen, keine Fassaden werden eingerissen. Stattdessen erbarmungslose Detailwut und Genauigkeit. Fast 1600 Seiten sind eindeutig viel. Doch wenn wir beispielsweise auf knapp 20 Seiten einem Anti-Drogen-Treffen beiwohnen, das Hal Incandenza aufsucht, um seinem Marihuana-Konsum zu entkommen, und dann einen Kreis von Mittelschichtmännern in den Dreißigern trifft, die alle identische Teddybären an Pulloverbrüste drücken und sich gegenseitig die Schultern mit Tränen nässen, leidet der Leser dieselben Höllenqualen wie Hal, der sich nichts sehnlicher wünscht als, dass das hier endlich ein Ende haben möge - und trotzdem wie ein Kaninchen vor der Schlange unglaublich fasziniert von dem Geschehen ist.

Nichts zeichnet diesen Roman mehr aus, als dass Form und Inhalt und eben die Lektüre deckungsgleich werden. Um so etwas fertig zu bringen, braucht man viele Seiten, lange Sätze, viele Wörter. Wörter, die nur in entlegenen Tiefen der einschlägigen Wörterbücher zu finden oder gleich ganz erfunden sind. Sie sind der Abwehrzauber gegen eine überaus finstere Geschichte, die von Einsamkeit und Angst handelt, und gleichzeitig pulverisieren sie jeden Lack, mit dem wir gewöhnlich emotionale und psychische Defekte überziehen, mit dem Medien, Werkzeuge des Konsums und politische Diskurse gepanzert werden.

Fußnoten sind hier nicht vorgesehen, daher also der eingeklammerte Hinweis, dass der Unendliche Spaß auch von zahlreichen Menschen bevölkert wird, die all das schöne Fachvokabular nicht richtig aussprechen können oder einfach nur falsch verwenden. Zu loben, dass Ulrich Blumenbach solche und andere Malapropismen (noch ein schönes Fremdwort!) kongenial ins Deutsche gebracht hat, ist angesichts seiner nur mit Niederknien zu kommentierenden Übersetzungsleistung so originell wie die Sonne für ihr Scheinen zu loben.

Hier müsste gleich noch eine Fußnote zur Fußnote folgen, die mit der aus einem einzigen dreiseitenlangen Satz bestehenden aberwitzigen Geschichte von Mrs Lenz’ unglücklich eingeklemmtem Hinterteil im Fenster einer Bustoilette ein anschauliches Beispiel liefert: überdies auch wieder eine Mutter-Sohn-Episode.

Allein die Gegenwelt zu der auf einem Hügel im Metro-Boston einer nicht sehr fernen Zukunft liegenden Tennisakademie, das unterhalb des Hügels liegende Ennet House, eine Einrichtung für Drogensüchtige und Alkoholkranke, gibt genug her für ein Bild von der radikalkomischen Finsternis des Unendlichen Spaßes.

So wie Hal Incandenza oben auf dem Hügel immer mehr in eine Einsamkeitsspirale eindreht, mitten hinein in den inneren Abgrund seiner traurigen Familie, kommt der andere große Protagonist des Romans, Don Gately, ein aufgrund mangelnder Französischkenntnisse zum Mörder gewordener Dieb, ehemaliger Insasse des Ennet House und nun dort als Betreuer tätiger, allseits beliebter Büßer, mit den selbst aufgeladenen Dämonen, aber vor allem mit den Dämonen seiner Kindheit nicht mehr klar.

Seine Familiengeschichte von der Mutter, die ständig vom Stiefvater verprügelt wurde, sich Tag für Tag besinnungslos gesoffen und die er schließlich von früh an ernährt und gepflegt hat, verkörpert die drastische und brutale Seite der verwahrlosten Hohlwelt dieses Romans, die den kapitalistischen Verheerungen unserer Gegenwart durchaus nahe kommt.

Gegen Ende des Romans liegt Gately mit fiebrigen Wachträumen im Bett, führt ein ausführliches Gespräch mit dem Geist von Hals totem Vater James Incandenza, immer wieder brechen neue traumatische Kindheitserfahrungen hervor und schließlich sitzt der Tod in wunderschöner Menschengestalt an seinem Bett und erklärt ihm seine zwanghafte Mutterliebe. Alles spielt sich in seinem Kopf ab, er kann nicht mehr sprechen.

Hal geht es nicht viel anders. Beide schreien sie in Alpträumen um Hilfe und haben doch das Gefühl, dass niemand sie hören kann. Hal Incandenza und Don Gately sind Wiedergänger von Shakespeares Hamlet wie so vieles in "Unendlicher Spaß" - nicht nur der Titel ist Zitat - mit dem Hamlet-Muster spielt. Die Filmproduktionsfirma von Hals Vater heißt "Poor Yorick Entertainment" und gibt damit abermals vor, worum es in dem ganzen dicken Buch geht: unendlich komisch, aber von Schaudern machender Einbildungskraft.

Nach dem Tod seines Vaters ist Hal auch gegenüber seiner Mutter ein Hamlet, der daran zu knabbern hat, dass sie nun mit ihrem eigenen Halbbruder und neuen Direktor der Tennisakademie liiert ist. Hal ist der "Held des Nicht-Agierens, der über die Gelassenheit hinaus ist, der sich zu Außenreizen nicht mehr verhalten kann und hierhin und dorthin getragen wird von stämmigen Komparsen, denen retrograde Amine im Blut kochen." Er ist einsam.

Diese Anhedonie, die innere Leere, der so viele im Roman erliegen, hindert Hal jedoch nicht daran, reflektieren zu können. "Ich fand es immer ein bisschen grotesk," so Hal gegen Ende von Unendlicher Spaß, "dass Hamlet all seiner lähmenden Erkenntnisskepsis zum Trotz die Realität des Geists (seines Vaters) nie anzweifelt." Hal verzweifelt an der Heuchelei, von der er sich umgeben sieht. Er verzweifelt an der Heuchelei seiner Mutter, ihrem "Höflichkeitsroulette" und Aufmerksamkeitsterror, vor allem aber an der Möglichkeit, dass ihr Heucheln und auch sein eigenes Heucheln nicht nur geheuchelt sein könnten. Hal kann nicht mehr sprechen, hier wird nur "konnektiert".

Unendlicher Spaß ist eine Hamletmaschine, die zum Stehen kommt, der das Öl ausläuft und die knirscht mit lauter unmöglichen Sätzen, die gar nicht wieder aufhören wollen.Sprache und Welt passen nicht zusammen, stattdessen leben wir als manipulationswillige Parasiten einer Heuchelindustrie. Darum geht es bei Wallace immer wieder. Die Familie als Keimzelle sozialer Bildung hat abgedankt, die durchaus komplexe Ethik von Unterhaltung und Aufmerksamkeit sind an ihre Stelle getreten. Im Kern führt Wallace das auf die Unvereinbarkeit von Wörtern und Welt zurück. Zu komplex, was in uns vorgeht, um es mit sprachlichen Mitteln nur annähernd ausdrücken zu können.

In einem Interview noch während der Arbeit am Roman erklärte Wallace das Problem mit Wittgenstein, der ihm nur die Wahl lässt, Sprache wie einen kleinen Punkt von unendlicher Dichte zu behandeln oder Sprache Welt werden zu lassen. Außen oder innen, das ist die Frage. Wir sind in der Sprache, sagt Wallace, und es gibt zwei Möglichkeiten, damit umzugehen: Man geht in die Falle der tausend Verführungen, glaubt alles, was gesagt, bebildert, als Nachahmung ausgegeben wird. Oder man erweitert das Selbst der Sprache, dehnt den Innenraum der Sprache unendlich aus. Was für Möglichkeiten und Abgründe sich da auftun, weiß jeder, der den "Unendlichen Spaß" gelesen hat.

Denn an Hal zeigt Wallace, wie milchig die Grenzen verschwimmen. Für den Wörterbuchauswendiglerner Hal, erzeugt die "große Wohlwollenabsahne" für seine Gedächtnisakrobatik "fast dieselbe blasssüße Aura, die das LSD-Nachglühen ihm verlieh." Intensiver Drogengebrauch verschafft den Ursachen der Depression ein weiches Bett und dämpft den Ekel der Zellen und der Seele. Für die "Ein-Mann-Hölle" der Depression gibt es, sagt der Unendliche Spaß, keine Lösung. Denen, die auf Seite 1547 angelangt sind, hat David Foster Wallace einmal übrigens gegen müde Augen das in vielen Kopfschmerzmitteln enthaltene Excedrin empfohlen.